Ein kurzer Sonnenstrahl der Anarchie (2008-2015)

Ich halte Anarchismus immer noch für die schönste politische Denkrichtung. Deshalb ist sie auch nicht tot zu kriegen. Zwei Kidz streiten auf dem Schulhof. Man kann die Lehrerin rufen, die Eltern oder die Kidz regelns eben selbst. Sie regelns, weil sie eine Kultur entwickelt haben, die damit klar kommt. Weil sie wissen, dass man das Game nicht gegeneinander gewinnt – zum Amüsement der Zuschauer – sondern gemeinsam gegen die Zumutungen des Lebens. Das ist einfach schön, aber eben auch einfach und einfache Antworten stehen aktuell nicht gut im Kurs.

Der „Aktienkurs der Anarchie“, so die These, hatte eine kleine Hausse in den frühen Zehnerjahren und befindet sich aktuell im Fall. Da sich das Ganze im außerbörslichen Handel abspielt, finden wir den Kurs nirgendwo notiert. Man wird wohl nicht umhin kommen in den Realitäten zu buddeln.

Irgendwo dort in den einstelligen 2000ern ging der neoliberalen Ideologie die Puste aus. Der freie Handel hatte nicht alle gleichermaßen beglückt. Die Infrastruktur wurde in privater Hand nicht besser. Die Wirtschaft wuchs nicht nachhaltig und chic, sondern verdaute sich selbst. Die Rente war nicht sicher und sonst auch nichts so wirklich. Die Entwicklungen brachten zwar die privilegierte Crème de la Crème nicht in die Bredouille – im Gegenteil, wohl aber die Legitimation staatlicher Herrschaft. Ich will hier mal kurz an das drollige Verhältnis des Neoliberalismus zum Staat erinnern. Einerseits haut man dem Staat gerne eins auf den Deckel, weil man einen Sündenbock für das eigene Scheitern benötigt und einem der rassistisch, antisemitische Argumentationsstrang fehlt. Andererseits gehört der Staat fest ins neoliberale Konzept, denn ihm obliegt es den Markt aufrecht zu erhalten und jeder die Ohren lang zu ziehen, die das heilige Eigentumsprinzip in Frage stellt.

Im Jahre 2010 also stand das Individuum, das beherrschte Subjekt, der immer noch Untertan, die allzeit flexible, hochqualifizierte Arbeitnehmerin einer staatlichen Herrschaft gegenüber, die forderte und züchtigte, aber immer weniger lieferte. Zusätzlich war dem Arbeitsmarkt zuliebe das Ausbildungsniveau gestiegen und die mediale Informationshoheit etablierten Institutionen entglitten. So wandte das selbstbewusste Individuum verschiedener Herkunft seinen Blick vom Staate ab und erkannte die Zukunft in den Augen der Suchenden neben sich. Doch diese Zukunft lag verbaut hinter dem brüchigen Beton überkommender Herrschaft und an diesem Punkt entstanden Massen mit dem Willen ein Feuer zu entfachen. So weit so romantisch – der anarchistische Moment der emanzipierten Einzelnen in solidarischer Vereinigung. Es war die Zeit der Revolutionen in der arabischen Welt, der Kämpfe und Selbstorganisation in Griechenland und von Occupy.

Vor Kurzem sprach ich mit einem anarchistischen Bekannten über irgendwas politisches, das hier keine Rolle spielt, und er erwähnte nebenbei den historischen Höhenflug des Anarchismus. Das blieb mir beschämend in Erinnerung. Kurz – ich halte es für Unsinn. „A true believer“ der Bewegung kennt keine Niederlagen. Alles bleibt aus irgendeiner Sichtweise immer ein Fortschritt. Die „Verhältnisse“ tief schwarz, die Bewegung im Glanze. Ich behaupte, dass es diesen Sonnenaufgang des Anarchismus genau so wie eben erzählt bis 2015 gegeben hat, aber es danach bergab ging.

In den folgenden Jahren bekam das kämpferische Individuum es mit der Angst zu tun. Immer mehr manifestierte sich, dass hinter der Krise des Neoliberalismus nicht ohne Weiteres eine strahlende Zukunft – nein vielmehr eine verstrahlte lauerte. Alte Bekannte krochen zwar spät, aber dann in großer Zahl, aus Kneipen, Kasernen, Gebetshäusern und anderen Grüften. Die strauchelnde Globalisierung brachte Identität wieder groß in den Trend. So entstand eine diskursive Schneise, durch die so ziemlich Alle ein bisschen mitlaufen konnten. Einmal natürlich die „rechten Tabubrecher“ mit ihren Nationalitäten, Rassen, Abendländern und Moslem Bruderschaften. Andererseits entstand aber auf dieser Achse fies gesagt auch eine neue Querfront. Denn selbst unter antiautoritären Linken entdeckte man identitäre Referenzpunkte. Der Diskurs verschob sich von gesellschaftlicher Befreiung hin zu der Auslotung spezifischer marginalisierter Perspektiven (Wobei es zum Identitätsdiskurs dazu gehört, dass sich alle marginalisiert fühlen.). So wag Diskriminierung ist und so scheiße davon betroffen zu sein, so wenig vermag dieser Diskurs doch einen emanzipatorischen Weg einzuschlagen. Denn im Kern dreht es sich immer darum auszuloten: Was bin ich? Was ist mein Raum? Was sind die Anderen? Wie bedrohen die Anderen meinen Raum und meine Perspektive? Stärker dreht es sich um Grenzen als um Möglichkeiten der Interaktion. In den Jahren nach 2015 fühlte sich das Individuum nicht mehr empowered genug mit anderen eine Zukunft zu erstreiten, sondern musste seinen Raum abstecken und ihn gegen die Begehrlichkeiten der Anderen verteidigen. Und wer soll uns schützen, wenn wir einander Wolf sind? Genau – der Staat. So fällt auch auf, wie sehr die verschiedenen Spielarten der Staatskritik in der Versenkung verschwunden sind und auch wie viele Bewegungen wieder an den Staat appellieren. Wir sollen wählen gehen, damit der Staat unsere Identitäten schützt. Der Staat soll gegen Hasskommentare aktiv werden. Der Staat soll Klimagesetze erlassen. Der Staat soll Wohnraum bereitstellen. Der Staat soll unsere Zivilgesellschaftsklitschen fördern usw. …

Zwar gilt die Anarchie vielen nicht als widerufen, aber sie ist fürs erste zu den Akten gelegt. Zunächst gilt es Realpolitik zu machen um die „Barbarei“ abzuwenden. Aus der Panik der besorgten Mitmenschen heraus wird man mitunter geradezu aggressiv zur Volksfront ermahnt. Bloß diese Besorgten vergessen, dass die gefürchtete Barbarei in der bestehenden Ordnung lebt und im Ausbau der autoritären Staatlichkeit auch unter Sonnenblumen bestens gedeiht.

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